Glaubensfrage

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Meine Schwester hat vor ein paar Wochen etwas zu mir gesagt, was mit seitdem nicht aus dem Kopf geht: „Ich glaube nicht an Objektivität.“ Was xier damit meinte war, dass jeder Mensch seine eigene Realität hat und es für eine einzelne Person nicht möglich ist, eine allgemeingültig Wahrheit zu erkennen.

Aufgrund einer wissenschaftlichen Arbeit im Rahmen meines Studiums Geschäfte ich mich momentan hin und wieder mit Statistik. Häufig erinnere ich mich dabei an meinen alten Statistikprofessor, der uns den Sinn von wissenschaftlichen Experimenten auf folgende Weise zu erklären versuchte: „Den wahren Wert, zum Beispiel den wahren Nutzen eines Medikaments in Prozent, werden Sie niemals erfahren – Sie können nicht alle Menschen mit diesem Medikament behandeln und sehen, was passiert. Weil das rein technisch und ethisch nicht möglich ist, müssen Sie sich auf Experimente verlassen, die die realistischen Bedingungen so gut wie möglich abbilden sollen. Was Sie dadurch erhalten, ist der Schätzer, von dem Sie vermuteten können, dass er sich dem wahren Wert annähert. Den wahren Wert selbst aber können Sie nie erreichen, denn den kennt nur der Schöpfer.“

An dieser Stelle zeigte er uns immer ein Bild von Gottvater oben und Wissenschaftler*innen unten auf der Folie. Jedes Mal, wenn ich nun in meinem Statisikbuch vom wahren Wert lese, muss ich an Gott denken, der den Wert wahrscheinlich irgendwo neben den 10 Geboten angeschrieben hat.

Ich persönlich hasse es, wenn Menschen auf einer für mich nicht faktisch verständlichen Basis argumentieren. Ich mag es zu diskutieren und habe auch tatsächlich hin und wieder schon meine Meinung geändert, wenn mir ein Argument meines Gegenübers logisch vorkam und Aspekte einbrachten die mir vorher noch nicht klar waren. Wenn ich mir einer Meinung sicher sein will, verlasse ich mich auf meinen Verstand und überprüfe, ob sie logisch ist oder ob sie mehr auf einem Gefühl beruht, dass ich nicht richtig begründen kann.

Natürlich ist es absolut ok und gut, bei der Meinungsbildung auch auf sein inneres Gefühl zu hören. Allerdings gibt es mir persönlich ein größeres Gefühl der Sicherheit, wenn ich mit Argumenten für meine Haltung eintreten kann, von denen ich glaube, dass auch andere sie schnell einsehen können.

Manchmal habe ich dann das Gefühl, den „wahren Wert“ gefunden zu haben oder zumindest in seine Nähe gekommen zu sein. Ich bin mir dann sicher, dass ich Recht habe. Nicht bei jedem Thema versteht sich – mir ist klar, dass kein Mensch immer zu 100% richtig liegen kann. Ich spreche von Dingen, die mich interessieren und mit denen ich mich mehr als 5 Minuten beschäftigt habe. Dann kann ich mich eben hin und wieder dem Eindruck nicht verwehren, dass die Objektivität nicht nur irgendwo „da oben“ ist – manchmal scheint sie ganz nahe zu sein und ich meine, sie mir Händen greifen zu können.

Wenn Menschen über Dinge, die mich ebenfalls interessieren, diskutieren – sei es in einem Polittalk, auf Twitter oder auf einer WG-Party, und einige eine andere Meinung vertreten als die, die ich für objektiv richtig halte, kann ich oft einen gewissen Ärger in mit spüren. Das liegt daran, dass ich solche Situationen schon häufiger erlebt habe und weiß, dass sich diese Menschen, die teils meine Freund*innen oder doch zumindest gute Bekannte sind, nicht umstimmen werde. Wenn ich mich einmische, werden wir höchstwahrscheinlich an einen Punkt kommen, an dem wir einander freundlich zustimmen, dass wir uns in diesem Punkt nicht einig werden.

Es werden dabei Haltungen offenbart, die ich oft nicht verstehen kann, weil sie (aus meiner Sicht) nicht logisch sind. Das frustriert mich. Wie kann man sich nur so schlecht informiert haben, wenn die „Wahrheit“ doch so offensichtlich auf der Hand liegt? Oder haben sich diese Menschen, die ich ja wie gesagt häufig auf anderer Ebene auch sehr schätze, am Ende gar kein Problem mit nicht vorliegenden Informationen? Vielleicht ist es ihnen ja auch einfach egal, dass durch ihre Haltung andere Menschen benachteiligt, der Planet gefährdet, ein schlechter Zustand nicht behoben wird?

Aber halt, da muss ich mich am Riemen reißen. Natürlich kann das manchmal der Fall sein. Häufig aber kann ich in solchen Konversationen aber ähnliche Gefühle auch von meinem Gegenüber wahrnehmen, Ich bin dann nicht die einzige in dem Gespräch, die davon überzeugt ist, Recht zu haben.

Es ist nicht logisch, anzunehmen, dass nur ich das Gefühl habe, mit meiner Meinung näher an der Objektivität zu liegen als die anderen. Anderenfalls würden meine Gegenüber nicht mit der gleichen Vehemenz argumentieren wie ich. Viel wahrscheinlicher ist es, zu vermuten, dass die Person sich ähnlich sicher ist, in diesem Punkt die Objektivität an ihrer Seite zu haben – Aber wer hat nun Recht? Ich meine ich, denn ich kann es ja mit meinen Argumenten beweisen. Die andere Person denkt das gleiche von sich, und keins der Argumente kann das Gegenüber überzeugen.

Letztendlich scheint die Frage nach der objektiven Wahrheit also doch eine Glaubensfrage zu bleiben: Ich glaube nicht an die Argumente meines Gegenübers und andersherum verhält es sich ähnlich. Das würde bedeuten, dass meine Schwester Recht hat: Wenn es mehr als eine „objektive“ Tatsache gibt, werden die dazu ausgesprochenen Meinungen zu Subjektiven. Für mich ist das ein ziemlich unerträglicher Gedanke. Ich ziehe viel Selbstbewusstsein aus meiner Auffassung, dass meine Aussagen (zumindest einige) fundiert sind und der Wahrheit dadurch nahe kommen können.

Vielleicht könnte ich mich auf einen Kompromiss einigen. Die eine Frage ist ja, ob es die Objektivität, also eine absolute Wahrheit an sich überhaupt gibt. Die andere, ob ein Mensch sie mit den menschenüblichen Kapazitäten erfassen kann. Mir fällt es einfacher, zu glauben, der „wahre Wert“ befindet sich irgendwo da oben, wer weiß wo, meinetwegen sogar neben den 10 Geboten. Von hier kann ich ihn zumindest nicht klar einsehen. Wie alle anderen muss ich wohl versuchen, mich möglichst lang zu machen – mithilfe von verständlichen und logischen Argumenten, ohne Angst, manchmal beim ersten oder zweiten Versuch falsch zu liegen. Mithilfe von vertrauenswürdigen Quellen, ob das nun gut kontrollierbare Studien oder auch die Erfahrungen von Betroffenen sind. Vielleicht muss ich mir öfter klar machen, dass ich auch dadurch nicht an sie heran kommen werde – aber immerhin näher zu ihr.

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