Dilemma

am

Vorgestern hat mich mein Freund Exavery aus Matema angerufen. Nichts Ungewöhnliches, in letzter Zeit telefonieren wir fast jeden Tag. Aufgrund des Virus macht er sich Sorgen um mich, weshalb er sich jeden Tag versichert, dass es mir noch immer gut geht. Das alleine zeigt ja schon, was für ein unheimlich guter Freund er ist. Normalerweise reden wir dann noch eine Weile über dies und das, zum Beispiel seine Kinder, unsere gemeinsamen Freunde oder seine Kuh, die momentan wieder mal schwanger ist.

27a595e8-7748-4cab-9373-f0e63032dcdd
Exavery und sein Sohn Carl bei meinem Besuch im September 2019

Auch vorgestern morgen schien nicht viel anders zu sein, als morgens das Telefon klingelte und Exavery sich bei mir meldete: „Guten Morgen Schwester, wie hast du geschlafen?“- „Gut, wie gehts dir?“- „Gut, aber soll ich dir mal was verraten?“ – „Was denn?“ – „Gestern gab es einen Sturm und das Dach von unserem Haus ist weggeflogen. All unsere Sachen sind nass und ich habe heute nacht nicht geschlafen.“

Hui. Was für eine Nachricht am Morgen. Ich war erstmal sprachlos. Exavery erzählte, dass er am Abend auf einer Feier gewesen sei und als er zurückkam das Haus zerstört vorgefunden habe. Das Dach besteht nur aus Wellblech, weswegen es wohl leicht durch den Wind weggetragen werden konnte. Die Kinder und seine Frau wohnten momentan bei der Oma, um ihr bei der Ernte zu helfen, sodass keiner zuhause gewesen war, um etwas mitzubekommen. Teile des Daches habe er in der Umgebung wiedergefunden, manche Stücke seien aber ganz verschwunden. Der Regen habe noch nicht aufgehört, sodass es momentan weiter ins Hause regne. Das alles erzählte er mir ganz ruhig, als wäre es einfach nur eine recht interessante Geschichte. Er fluchte nicht, bedauerte sich nicht selbst, er erzählte einfach ganz sachlich, was seit gestern Abend passiert war. Ich saß derweilen in meinem warmen Bett und musste mehrmals schlucken. Als er zuende erzählt hatte, fragte ich ihn, was jetzt sein Plan sei. Er sagte: „Naja, da kann man nichts machen. Ich muss jetzt halt erstmal Geld verdienen und dann muss ich das Dach eben reparieren.“ – „Und in der Zwischenzeit?“ – „Naja, ich werd einfach weiter hier wohnen bleiben, was anderes bleibt mir nicht übrig.“

Es gibt zwei Sachen, durch die mich diese Geschichte nachdenklich und auch traurig gemacht hat. Die eine ist der Umstand, dass mein Freund in Schwierigkeiten steckt. Dass Corona inzwischen auch in Tanzania angekommen ist und die Menschen dort ebenfalls angehalten werden, zuhause zu bleiben, ist nur die Spitze des Eisbergs. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie es sein muss, nach Hause zu kommen und festzustellen, dass dieses in meiner Abwesenheit schwer beschädigt worden ist. Für mich ist mein Zuhause eine Selbstverständlichkeit und ich wüsste nicht was ich täte, wenn ihm plötzlich das Dach fehlen würde. Hinzu kommt, dass Exavery ja nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Frau und seine beiden Kinder die Verantwortung mitträgt. Für den Moment sind sie bei seiner Mutter untergekommen, aber das ist natürlich keine dauerhafte Lösung.

Die zweite Sache ist, wie Exavery davon erzählt hat. Ich bin seine „Schwester“, also ein Mensch, der ihm sehr nahe steht, und trotzdem war sein Bericht durchweg sachlich. Von der Verzweiflung, die ich an seiner Stelle sicher empfunden hatte, war nichts zu bemerken. Ich denke nicht, dass das daran liegt, dass er sich vor mir zusammenreißt, zumindest ist das sicher nicht die ganze Wahrheit. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass eine solche Verzweiflung bei ihm gar nicht wirklich vorhanden war. Er schien einfach hinzunehmen, dass sein Ziel, dass er nun seit drei Jahren verfolgt, nämlich sein Haus endlich fertig zu bauen, wieder in weite Ferne gerückt ist. Die Vorstellung, für die nächsten Wochen bis Monate in einem Haus zu wohnen, in das es reinregnet, schien ihm nicht besonders viel auszumachen. Ich habe das Gefühl, dass er vieles hinnehmen kann, bei dem ich sicherlich wütend und ratlos werden würde. Die Frage „Warum muss sowas mir passieren?“, scheint bei ihm nicht aufzukommen.

Wenn ich daran denke, wird mir klar, dass die Welt ungerecht ist. Ich fühle mich komisch, bei einem solchen Telefonat in meinen eigenen vier Wänden zu sitzen, die größer sind als Exaverys ganzes Haus, in dem er mit drei anderen Personen zusammen wohnt. Gestern Abend habe ich Sushi für ca. 15€ gegessen, vorgestern eine Flasche Wein für 10€ geköpft. Das allein ist schon die Summe, die Exavery in einer guten Woche verdient. Es ist nicht fair, dass es so einen großen Unterschied zwischen uns gibt. Es ist nicht richtig, dass ihn ein Unglück wie die Zerstörung seines Zuhauses gar nicht mehr wirklich aufregt, während ich mir nicht vorstellen kann, was ich tun würde, wenn mir etwas ähnliches passieren würde. Gerade in dieser Zeit, in der ich mich bemühe, mein Zuhause so angenehm wie möglich zu gestalten, wird mir einmal mehr klar, dass meine Probleme im Gegensatz zu denen von anderen Menschen geradezu winzig sind.

Exaverys Geschichte ist selbstverständlich nur eine von vielen, die einem zu denken geben sollten. Sicherlich gibt es auch noch wesentlich schlimmere Schicksale, in denen Menschen noch viel mehr als Sachwerte wie das Dach ihres Hauses verlieren. Umso bezeichnender ist es, dass mich genau diese Geschichte so berührt und auch wütend gemacht hat. Es ist, weil ich die Menschen hinter dieser Geschichte kenne, das Haus gesehen habe und weiß, wie viel Arbeit dort hineingesteckt worden ist. Ich kann mir genau vorstellen, wie mein Freund an dem Abend nach Hause gekommen ist und seine Wohnung überschwemmt vorgefunden hat. Dabei gäbe es auf der Welt ja auch unzählig viele andere Personen, deren Situation genauso schlimm oder noch schlimmer ist und an die ich an manchen Tagen trotzdem keinen einzigen Gedanken verschwende.

Und auch dieser Umstand ist Teil meines jetzigen Dilemmas:  Es wird ca. 100€ kosten, dass Dach wieder einigermaßen zu reparieren. Das reine rechnerisch bedeutet das wohl, dass er mindestens einen Monat in einem Haus ohne Dach leben wird, vielleicht sogar mehr. Was soll ich jetzt machen? Wäre es richtig, Exavery finanziell zu unterstützen, damit er das Haus schon diese Woche regenfest machen kann? Mein Gefühl sagt mir, dass das das Richtige wäre. Immerhin ist er mein Freund und zusätzlich der Vater meines Patenkindes. Wie kann ich seine Familie wortwörtlich im Feuchten sitzen lassen, wenn ich doch die Mittel habe, ihnen zu helfen? Wenn ich mir für das Geld stattdessen neue Schuhe kaufe, wäre das nicht der Gipfel der Ungerechtigkeit? 

Auf der anderen Seite: Wie gerecht ist es, dass ich ausgerechnet dieser Familie helfen will, nur weil ich sie kenne? Mal ganz abgesehen von den anderen Brennpunkten auf der Welt gibt es auch in Matema ganz sicher noch viele andere Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation wie mein Freund befinden. Sie müssten es als eine Ungerechtigkeit empfinden, wenn sie sehen, dass einer ihrer Nachbarn nach einem Rückschlag einfach wieder auf die Beine geholfen wird, während sie selbst sehen müssen, wie sie mit ihren eigenen, wahrscheinlich nicht minder schweren Problemen zurecht kommen. Im schlimmsten Fall könnte das sogar zur Missbilligung gegen meinen Freund selbst führen, und dass ist natürlich das letzte, was ich möchte.

Wahrscheinlich müsste man die ganze Welt ändern, um mein Problem zu lösen. Weil das aber nicht geht, bleibt mir wohl als einziger Trost, dass meine Probleme bei weitem nicht die schlimmsten sind.

Hinterlasse einen Kommentar